In den Patentnichtigkeitsverfahren X ZR 73/09 und X ZR 58/11 hat der Bundesgerichtshof die Bedeutung des Fachmanns erneut gestärkt.
Beide Verfahren beschäftigen sich mit Fragen des Gehalts der ursprünglichen Offenbarung.
In X ZR 58/11 wurde von der Klägerin u. a. beanstandet, der beanspruchte Gegenstand des europäischen Patents EP 1 366 968 gehe über die Offenbarung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus, da das beanspruchte Merkmal nur als Teil eines Ausführungsbeispiels in einer bestimmten Merkmalskombination offenbart sei. Gemäß der Auffassung des Senats war es für den Fachmann in vorliegendem Fall jedoch durchaus möglich den beanspruchten Gegenstand als eine mögliche Ausführungsform aus den Ursprungunterlagen zu entnehmen. Der Senat entschied demnach, dass in vorliegendem Fall kein Zwang bestünde den Gegenstand des Patentanspruchs derart zu beschränken, dass sämtliche Merkmale aus dem entsprechenden Ausführungsbeispiel übernommen werden müssten.
In X ZR 73/09 wurde der Offenbarungsgehalt des Streitpatents EP 0 430 402 im Hinblick auf die Ausführbarkeit des beanspruchten Gegenstands betrachtet. Die Klägerin hatte geltend gemacht, dass keine geeignete Messmethode offenbart und somit die Ausführbarkeit des Streitpatents nicht gegeben sei. Der Senat stellte jedoch fest, dass neben der als unzureichend bemängelten Messmethode zum Prioritätszeitpunkt dem Fachmann noch andere geeignete Messverfahren zur Verfügung standen. Eine für die Ausführbarkeit hinreichende Offenbarung sei bereits dann gegeben, wenn die Gesamtoffenbarung der Patentschrift in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen am Anmelde- oder Prioritätstag dem Fachmann ermögliche ohne erfinderische Tätigkeit und ohne unzumutbare Schwierigkeiten den angestrebten Erfolg zu erreichen.
Damit hat der BGH in beiden Entscheidungen die Kompetenz des allgemeinen Fachmanns erneut bestätigt. Aus Sicht des BGH sind die Ansprüche aus Sicht des (kompetenten) Fachmanns auszulegen, der sowohl befähigt ist die Ausführungsbeispiele als auch das allgemeine Fachwissen zum Zeitpunkt der Anmeldung bzw. zum Zeitpunkt der Priorität als Teil der Gesamtoffenbarung zur Auslegung der Ansprüche heranzuziehen. Dies steht im Gegensatz zur gängigen Sicht des EPA, wonach die Auslegungsgbefähigung des Fachmanns regelmäßig auf den wortwörtlichen Inhalt der Anmeldung bzw. Entgegenhaltungen beschränkt wird und der Fachmann z. B. beim Ermitteln einer erfinderischen Tätigkeit einen direkten Hinweis aus dem Stand der Technik benötigt, um sich den Gegenstand einer Anmeldung aus dem Stand der Technik tatsächlich (ohne erfinderische Tätigkeit) erschließen zu können.
(Dr. Simone Pajonk)